Gewerblicher Rechtsschutz / IP

Die Relevanz der Erteilungsakte für die Patentauslegung – oder doch nicht!?

Veröffentlicht am 19th Mar 2024

In diesem Beitrag unserer UPC-Reihe geht es um eine Entscheidung der Lokalkammer München des EPG vom 20. Dezember 2023 (Anordnung vom 20. Dez. 2023, UPC_CFI_292/2023). Die Entscheidung ist vor allem mit Blick auf die Auslegung eines Patents durch das EPG von großem Interesse. Es geht um die Berücksichtigung der Erteilungshistorie eines europäischen Patents bzw. Einheitspatents bei dessen Auslegung. Daneben spielt auch die Erstattungsfähigkeit der Kosten einer Schutzschrift eine Rolle.

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Sachverhalt

Die Patentinhaberin stellte beim EPG einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wegen Verletzung ihres Europäischen Patents mit einheitlicher Wirkung (im Folgenden Einheitspatent) durch die Antragsgegner. Diese hatten eine Schutzschrift beim EPG hinterlegt. 

Das Einheitspatent wurde für elektronische Etiketten für Verkaufsflächen, wie beispielsweise digitale Preisetiketten für Regale in Supermärkten, und deren Kommunikation mit einem zentralen Server und einem mobilen Endgerät erteilt. Der Hauptanspruch des Einheitspatents umfasst ein elektronisches Etikett mit verschiedenen Komponenten, darunter ein Hochfrequenz-Kommunikationsmodul, einen Speicher, einen Anzeigebildschirm, einen Mikrocontroller, ein Gehäuse, eine gedruckte Leiterplatte sowie eine Hochfrequenzvorrichtung (Funkfrequenz-Peripheriegerät) mit Antenne und elektronischem Chip zur NFC- oder RFID-Kommunikation mit einem mobilen Endgerät. 

Streitig war zwischen den Parteien insbesondere, in welchem räumlichen Verhältnis die Antenne und die den Chip enthaltende Leiterplatte nach dem Patentanspruch angeordnet sein müssen. Der Patentanspruch trifft hierzu keine ganz eindeutige Aussage. Gemäß Hauptanspruch befinden sich „auf der [Leiterplatte] das Funkfrequenz-Kommunikationsmodul, der Speicher und der Mikrocontroller“. Ebenfalls ist „der elektronische Chip des Funkfrequenz-Peripheriegeräts auf der gedruckten Leiterplatte angeordnet“. Die gedruckte Leiterplatte selbst ist „in dem Gehäuse auf der Seite der hinteren Fläche des Gehäuses untergebracht“. Die Antenne dagegen ist „auf oder in dem Gehäuse auf der Seite der vorderen Fläche des elektronischen Etiketts angeordnet“.

Die räumliche Anordnung der Leiterplatte mit Chip auf der einen Seite sowie der Antenne auf der anderen Seite ist in technischer Hinsicht deshalb relevant, weil von der Leiterplatte elektromagnetische Störungen ausgehen können, welche die Empfangsleistung der Antenne beeinträchtigen könnten. Derartige Interferenzen als Wechselwirkung zwischen der den Chip enthaltenen Leiterplatte und der Antenne werden in der Beschreibung des Einheitspatents auch näher beschrieben.

Nach den Feststellungen des Gerichts liegt zumindest im ungeöffneten Zustand des Etiketts der angegriffenen Ausführungsform ein erheblicher Teil der Antenne – zumindest nahezu – auf der Innenseite der hinteren Gehäusefläche auf. Zur Beurteilung einer Patentverletzung bedurfte es im Zusammenhang mit der räumlichen Anordnung daher einer Auslegung des Einheitspatents durch das EPG.

Entscheidung des Gerichts

Die Lokalkammer München wies den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab, da sie nicht mit ausreichender Sicherheit davon überzeugt war, dass die Antragsgegner das Klagepatent verletzen.
Bemerkenswert ist, dass die Lokalkammer zur Auslegung des maßgeblichen Patentanspruchs und mithin zur Begründung der Entscheidung ausdrücklich auf den Inhalt der Erteilungsakte des Einheitspatents zurückgreift.

„Bereits die ursprüngliche Anspruchsfassung, welche im Zusammenhang mit im Erteilungsverfahren vorgenommenen Änderungen als Auslegungshilfe herangezogen werden kann, hatte einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem auf der gedruckten Leiterplatte angeordneten Chip und der Antenne hergestellt. Dort war formuliert, dass der auf der gedruckten Leiterplatte angeordnete Chip und die Antenne voneinander beabstandet sein sollen („…à distance de…“). Technischer Zweck des in räumlicher Hinsicht vorgesehenen Abstands war die Interferenzbeschränkung.“

EPG (Lokalkammer München), Anordnung vom 20.12.2023, UPC_CFI_292/2023

Die Formulierung „…à distance de…“ sei im Laufe des Erteilungsverfahrens geändert worden, um den durch die räumliche Trennung entstehenden technischen Effekt noch weiter zu präzisieren, nämlich durch „étant disposée sur ou dans le boitier du côté de la face avant de ladite étiquette électronique“.

Aufgrund der Feststellung des Gerichts sei bei der angegriffenen Ausführungsform zumindest ein wesentlicher Teil der Antenne der Fläche der hinteren Gehäuseseite zuzuordnen, da eine engere räumliche Anordnung als das „Fast-Aufliegen“ bzw. Berühren (im ungeöffneten Zustand) nicht möglich sei. Soweit die Antenne demnach der hinteren Gehäusefläche zuzuordnen sei, könne sie nicht gleichzeitig auf der Seite der vorderen Fläche des elektronischen Etiketts angeordnet sein. Da mit dem Hauptanspruch aber offensichtlich der Versuch unternommen werde, die technisch bestehende Wechselwirkung zwischen Chip und Antenne durch die räumliche Anordnung beider Bauteile zu regulieren, könne eine Verletzung nicht festgestellt werden, wenn die Antenne zumindest zu einem wesentlichen Teil der hinteren Gehäusefläche zuzuordnen sei.

Am Ende seiner Entscheidung stellt das EPG fest, dass die Antragstellerin als unterlegene Partei nach Art. 69 Abs. 1 EPGÜ die Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat. Nach Art. 69 Abs. 1 EPGÜ werden die Kosten des Rechtsstreits und sonstige Kosten der obsiegenden Partei in der Regel, soweit sie zumutbar und angemessen sind, bis zu einer festgelegten Obergrenze von der unterlegenen Partei getragen. Zu den „sonstigen Kosten“ im Sinne des Art. 69 Abs. 1 EPGÜ zählen dabei nach Auffassung des EPG auch die den Antragsgegnerinnen durch Einreichung einer Schutzschrift entstandenen Kosten. Mit dieser Feststellung bestätigt das EPG die in Deutschland geltende höchstrichterliche Rechtsprechung (statt vieler BGH, Beschl. v. 13. Feb. 2003, I ZB 23/02 – Kosten einer Schutzschrift).

Analyse und Praxishinweis 

Die Entscheidung der Lokalkammer München ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil das Gericht – wie selbstverständlich – davon ausgeht, dass die Erteilungsakte für die Patentauslegung zu berücksichtigen ist. Dies ist umso beachtlicher als die Erteilungsakte zur Auslegung genutzt wird, ohne auch nur ansatzweise auf anderslautende Rechtsprechung oder Auslegungsgrundsätze einzugehen („[…] welche im Zusammenhang mit im Erteilungsverfahren vorgenommenen Änderungen als Auslegungshilfe herangezogen werden kann […]“).

Die Berücksichtigung der Erteilungsakte für die Auslegung von Patentansprüchen in Verfahren vor dem EPG bedeutet zumindest aus deutscher Perspektive eine eindeutige Abkehr von der geltenden ständigen Rechtsprechung. 

Im deutschen Patentgesetz richtet sich der Schutzbereich des Patents nach § 14 PatG. Entsprechendes ist für europäische Patente in Art. 69 Abs. 1 EPÜ geregelt. Demzufolge wird der Schutzbereich durch die Patentansprüche bestimmt, die Beschreibung und die Zeichnungen sind zur Auslegung der Patentansprüche ergänzend heranzuziehen. Die Erteilungsakte eines Patents (einschließlich der Ausführungen des Prüfers im Erteilungsverfahren) wird demgegenüber zumindest in Deutschland nach ständiger Rechtsprechung des BGH bei der Patentauslegung grundsätzlich nicht berücksichtigt (statt vieler BGH, Urt. v. 15. Dez. 2015, Az. X ZR 30/14 – Glasfasern II; BGH, Urt. v. 12. März 2002, Az. X ZR 43/01 – Kunststoffrohrteil). Dies bedeutet, dass der Inhalt der Erteilungsakten eines deutschen Patents oder des deutschen Teils eines europäischen Patents vor deutschen Gerichten grundsätzlich keinen Einfluss auf den Schutzbereich des jeweiligen Patents hat. Die Erteilungsakte kann unter Umständen lediglich als Indiz für die maßgebliche Sicht des Fachmanns herangezogen werden, vor allem, wenn sie das anhand des Wortlauts, der Beschreibung und der Zeichnungen gewonnene Auslegungsergebnis bestätigt. Ob die Münchener Lokalkammer mit ihrer Bezugnahme auf die Anspruchsänderung gemäß der Erteilungsakte des Einheitspatents auf eben diese sehr eng gefasste (indizielle) Ausnahme abstellt, dürfte mit Blick auf die recht klare Begründung eher zu verneinen sein. 

Tatsächlich wird die Zulässigkeit der Erteilungsakte als Auslegungsmittel zur Bestimmung des Schutzbereichs eines Patents in den nationalen Rechtsordnungen der teilnehmenden Mitgliedstaaten des EPG bislang unterschiedlich beurteilt. Die zentrale Auslegungsnorm für europäische Patente, Art. 69 EPÜ, wird von den einzelnen Mitgliedstaaten nämlich unterschiedlich weit verstanden. Während beispielsweise in den Niederlanden, Belgien oder Schweden Inhalte der Erteilungsakte grundsätzlich (in unterschiedlichem Maße) zur Auslegung der Patentansprüche herangezogen werden können, kommt eine Berücksichtigung in Deutschland, Frankreich oder Italien grundsätzlich nicht in Betracht. 

Art. 69 EPÜ findet nun für Fälle, die vor dem EPG verhandelt werden, über Art. 24 Abs. 1 c) EPGÜ ebenfalls Anwendung. Die unterschiedlich weite Anwendung von Art. 69 EPÜ in Europa, insbesondere die bisherige Rechtsprechung in Deutschland, zeigt nun die besondere Relevanz der Entscheidung der Münchener Lokalkammer des EPG. 

Die Entscheidung des EPG aus Bayern ist auch deshalb bemerkenswert, weil die Lokalkammer Düsseldorf wenige Tage zuvor, am 11. Dez. 2023, die gleiche Rechtsfrage gegenteilig entschieden und entsprechend der bisherigen deutschen Rechtsprechung die Erteilungsakte bei der Patentauslegung unberücksichtigt gelassen hat (EPG (Lokalkammer Düsseldorf), Anordnung vom 11. Dez. 2023, UPC_CFI_452/2023). Die Düsseldorfer Lokalkammer stützte ihre Auffassung auf den Wortlaut von Art. 24 Abs. 1 lit. c EPGÜ i.V.m. Art. 69 EPÜ und sieht die jeweiligen Aufzählungen als abschließend an. 

„Soweit sich die Ag. zur Begründung ihrer abweichenden Auffassung auf (vermeintliche) Äußerungen der Ast. im Erteilungsverfahren beziehen, ist die Erteilungsakte bei der Patentauslegung im Grundsatz nicht zu berücksichtigen. Art. 24 I (c) EPGÜ iVm Art. 69 EPÜ bestimmen abschließend, welche Unterlagen bei der Auslegung der den Schutzbereich bestimmenden Patentansprüche heranzuziehen sind, nämlich die Patentbeschreibung und die Patentzeichnungen. Bloßen Äußerungen im Erteilungsverfahren kommt eine schutzbereichsbeschränkende Bedeutung zunächst einmal nicht zu.“

EPG (Lokalkammer Düsseldorf), Anordnung vom 11. Dez. 2023, UPC_CFI_452/2023, Rz. 17

Zum derzeitigen Zeitpunkt existieren somit zwei Entscheidungen von Lokalkammern aus Deutschland, die mit Blick auf die Patentauslegung die Einbeziehung der Erteilungsakte anders, genauer gesagt gegensätzlich, handhaben. Ob die Auffassung der Münchener Lokalkammer Bestand haben wird, ist derzeit offen. Gegen die Entscheidung wurde Berufung eingelegt (Az. UPC_CoA_1/2024). Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist daher mit Spannung zu erwarten. Sie dürfte grundlegende Bedeutung für alle am EPG teilnehmenden Mitgliedstaaten haben.

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* Dieser Artikel entspricht dem aktuellen Stand zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung und spiegelt nicht notwendigerweise den aktuellen Stand des Gesetzes / der Regulatorik wider.

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