Digitale Regulierung

Der EU Accessibility Act – Umsetzungsprojekte jetzt starten

Veröffentlicht am 25th Jun 2024

Der EU Accessibility Act wird die Barrierefreiheit für Millionen von Europäer:innen in der physischen und digitalen Welt verbessern und Unternehmen verpflichten, eine Reihe an Barrierefreiheitsanforderungen für viele Produkte und Dienstleistungen umzusetzen. Unternehmen sollten sich so zeitnah wie möglich auf die Einhaltung der Vorschriften vorbereiten.

Digital image of scales of justice

Der EU Accessibility Act im Überblick

Sprechende E-Books, eine drahtlose Verbindung zu Hörgeräten des neuen Tablets oder die Gewährleistung der Interoperabilität eines Online-Shops mit assistierender Technik wie Spracherkennungssoftware oder Screenreadern. Was für einige Unternehmen und Branchen noch wie Zukunftsvisionen klingen mag, wird durch European Accessibility Act1 („EAA“) bald schon Realität. Mit den ab 28. Juni 2025 geltenden Regelungen möchte die Europäische Union Menschen mit Behinderung eine umfänglichere Teilhabe in der digitalen Welt ermöglichen.

Für Menschen mit Behinderung ist der EAA ein Meilenstein: Er harmonisiert die unterschiedlichen Barrierefreiheitsanforderungen innerhalb der EU oder führt diese für einzelne EU-Länder auch erstmalig ein. Barrierefreiheit meint im Kontext des EAA nicht nur die „klassische“ Barrierefreiheit im Sinne der Fortbewegung, sondern erstreckt sich insbesondere auch auf die digitale Barrierefreiheit. Der EAA regelt daher einen weiten Bereich, von Designanforderungen mit Informations- und Dokumentationspflichten, die auch AGB betreffen können.

Die Auswirkungen für Unternehmen sind immens. Während EU-Regelungen zur Barrierefreiheit bisher vor allem für öffentliche Stellen galten, nimmt der EAA nun erstmals auch die Privatwirtschaft in die Pflicht, indem es Unternehmen dazu verpflichtet, pro-aktive Maßnahmen zu ergreifen, um Produkte und Dienstleistungen zugänglicher zu machen, anstatt sie lediglich zur Nichtdiskriminierung zu verpflichten. Gleichzeitig sind die neuen Barrierefreiheitsanforderungen für Unternehmen auch eine Chance, inklusivere (digitale) Umgebungen zu schaffen und neue Zielgruppen zu erreichen. 

Compliance-Verstöße sind hingegen teuer und können empfindliche Konsequenzen nach sich ziehen. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen festzulegen. Diese können über klassische Bußgelder hinausgehen. Die Nichteinhaltung kann unter anderem auch Durchsetzungsmaßnahmen wie Produktrückrufe oder Verkaufsverbote bedeuten. In vielen Mitgliedstaaten dürften Verstöße zudem auch durch Wettbewerber oder Verbraucherschutzorganisationen abgemahnt werden können. 

Unternehmen sollten sich daher frühzeitig mit den Anforderungen vertraut machen, um eine reibungslose Umsetzung zu gewährleisten. Die konkreten Anforderungen sind höchst komplex und erfordern eine lange Vorlaufzeit, etwa für die Anpassung des gesamten Produktfertigungsprozesses oder der Umprogrammierung von Websites. Daher sollten EEA-Umsetzungsprojekte jetzt gestartet werden. 

Deutschland setzt den EAA in erster Linie auf Bundesebene durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz („BFSG“) und eine entsprechende Rechtsverordnung („BFSGV“) um. Regelungen zu audiovisuellen Mediendiensten haben die Länder im Medienstaatsvertrag („MStV“) umgesetzt.

EAA in a Nutshell
  • Der EAA ist eine EU-Richtlinie (2019/882), die jeder Mitgliedsstaat in nationales Recht umsetzen muss. Die konkreten Regelungen können sich daher in den Mitgliedstaaten unterscheiden. Deutschland hat die Richtlinie im BFSG, der BFSGV und teils auch im MStV umgesetzt.
  • Die Vorgaben des EAA gelten nur für ausgewählte Produkte und Dienstleistungen (z. B. eine Vielzahl an elektronischer Hardware und der gesamte Online-Handel), die nach dem 28. Juni 2025 in den Verkehr gebracht bzw. durchgeführt werden.
  • Die Pflichten gelten für den privaten und öffentlichen Sektor.
  • Es gibt Übergangszeiträume von bis zu 5 Jahren für Produkte, die eingesetzt werden, um Dienstleistungen zu erbringen (z.B. Set-top-Boxen für Streamingplattformen)
  • Es sind Ausnahmeregelungen bei „grundlegenden Veränderungen“ oder bei unverhältnismäßigen Belastungen vorgesehen.
  • Es greifen Konformitätsvermutungen bei der Einhaltung gewisser Standards. Diese Vorgaben können sich mit der Zeit ändern.
  • Umfassende Durchsetzungsmaßnahmen wie Bußgelder und Sperren aber auch Rechtsbehelfe durch Verbraucher:innen oder Wettbewerber in einigen Mitgliedstaaten.

Welche Produkte sind betroffen?

Die Anforderungen des EAA gelten nicht für sämtliche Produkte, sondern nur für eine abschließend aufgezählte Gruppe: 

  1. Bestimmte Hardware: Die Richtlinie erfasst sog. Hardwaresysteme für Universalrechner inkl. der Betriebssysteme. Dazu gehören klassische Desktop Computer und Endgeräte wie Laptops, Smartphones und Tablets. 
  2. Geräte für die elektronische Kommunikation: Hierunter fallen Produkte mit interaktivem Leistungsumfang, die für elektronische Kommunikationsdienste verwendet werden, wie Mobiltelefone, Tablets, Modems oder Router. Diese Geräte sollen mit alternative In- und Outputmöglichkeiten ausgestattet sein.
  3. TV-Sticks, Spielekonsolen etc.: Erfasst sind auch sog. Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten verwendet werden. 
  4. E-Book-Reader: Auch die Inhalte tragbarer Lesegeräte sollen von Menschen mit Leseeinschränkungen, einschließlich visueller Beeinträchtigungen nutzbar sein.
  5. Selbstbedienungsterminals: Diese umfassen v.a. Geld-, Fahrausweis-, Informations- und Check-In-Automaten. Beispielsweise müssen Selbstbedienungsterminals mit einer Sprachausgabe ausgestattet sein.
     

Die Anforderungen betreffen die Produkte selbst, wie die Gestaltung der Benutzerschnittstellen und Funktionalitäten, gehen aber auch darüber hinaus. So macht der EAA etwa auch Vorgaben für Installationsanleitungen oder Verpackungen.

Die Pflichten gelten für den Hersteller, Bevollmächtigte, Einführer und Händler. Neben den Gestaltungspflichten muss ein Produkt beispielsweise eine CE-Kennzeichnung aufweisen und die Konformität technisch dokumentiert werden. 

Welche Dienstleistungen sind betroffen?

Erfasst sind auch verschiedene Dienstleistungen, die einen wichtigen Teil des täglichen Lebens ausmachen. Zu den betroffenen Dienstleistungen gehören:

  1. Online-Handel: Die Fallgruppe der sog. „Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr“ erfasst alle Dienstleistungen, die in Hinblick auf den Abschluss eines Verbrauchervertrages im E-Commerce erbracht werden. Dies meint somit den gesamten Bereich des Online-Verkaufs von Produkten, aber auch das Online-Angebot von Dienstleistungen wie etwa die Buchung einer Taxi-Fahrt per App. 
  2. Zugangsdienste für Streaming und Fernsehprogramme: Erfasst sind auch sog. Dienste, die den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten ermöglichen, samt bestimmter Funktionen, die für die Barrierefreiheit umgesetzt wurden. Erfasst sind ausdrücklich auch elektronische Programmführer.
  3. Telekommunikationsdienste: Hierunter fällt die normale Sprachtelefonie, aber auch Internettelefonie. Ebenfalls erfasst ist digitale Kommunikation über E-Mail, Chat oder SMS. 
  4. Bankdienstleistungen für Verbraucher:innen: Hiervon umfasst sind etwa Verbraucherkreditverträge, Dienstleistungen im Zusammenhang mit Finanzinstrumenten, Zahlungsdienste, Zahlungskonten und E-Geld. 
  5. E-Books inkl. Software: Komplementär zu den oben genannten E-Book-Readern (Hardware) sind auch E-Books und E-Book-Software vom Anwendungsbereich umfasst. 
  6. Personenbeförderung im Luft-, Bus-, Schienen- und Schiffsverkehr: Dies betrifft Webseiten, Apps sowie E-Tickets und Ticketdienste. Auch Reiseinformationen und interaktive Selbstbedienungsterminals müssen barrierefrei bereitgestellt werden sowie Informationen zur Barrierefreiheit der Verkehrsmittel und der umliegenden Infrastruktur.

Bei sämtlichen Dienstleistungen müssen beispielsweise alle Websites und Apps wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust gestaltet werden.

Welche Ausnahmen gibt es?

Trotz der umfassenden Anforderungen gibt es einige Ausnahmen aus dem Anwendungsbereich, auf die sich Unternehmen berufen können. Zunächst sind spezielle Inhalte von Websites und Apps, wie z. B. Kartendienste oder bestimmte Archive ausgeschlossen. 

Weitere Ausnahmen zum Schutz der Unternehmen sind vorgesehen:

  • Für Kleinstunternehmer (umfassend bei Dienstleistungen, teilweise Erleichterungen im Produktbereich);
  • Bei einer „wesentlichen Änderung“ des Produktes oder der Dienstleistung, die zu einer „grundlegenden Veränderung der Wesensmerkmale führen würde“; und
  • Bei einer unverhältnismäßigen wirtschaftlichen Belastung (anhand des Verhältnisses der Umsetzungskosten angesichts des Umsatzes und dem geschätzten Nutzen).

Durchsetzung und Sanktionen

Die Marktüberwachungsbehörden der Mitgliedstaaten kontrollieren, dass Unternehmen die Anforderungen einhalten. Hierfür können in Deutschland anlasslos Stichproben durchgeführt werden. Zudem haben Verbraucher:innen die Möglichkeit, Verstöße bei Behörden oder Gerichten zu melden. Verbraucher:innen können sich dafür auch durch einen Verband oder eine qualifizierte Einrichtung vertreten lassen, sowie bei einer Schlichtungsstelle einen Antrag auf Einleitung eines Schlichtungsverfahrens stellen. Verstöße stellen auch in einigen Rechtsordnungen ein Abmahnrisiko dar.

Verstöße gegen die Barrierefreiheitsanforderungen sind bußgeldbewehrt. In Deutschland sind Bußgelder von bis zu 10.000 EUR vorgesehen, in besonders gravierenden Fällen sogar bis 100.000 EUR. Zudem können Maßnahmen wie die Untersagung der Bereitstellung des entsprechenden Produktes oder der jeweiligen Dienstleistung drohen. 

Next Steps: To Dos für die nächsten 12 Monate

Bis zur Anwendbarkeit der nationalen Vorgaben für die Barrierefreiheitsanforderungen am 28. Juni 2025 verbleibt nur noch ein Jahr. Unternehmen sollten daher jetzt ihre EAA-Compliance Projekte starten und die folgenden Umsetzungsschritte vornehmen:

Schritt 1: Prüfung des EAA-Anwendungsbereichs für alle Produkte und Dienstleistungen

  • Für alle angebotenen Produkte und Dienstleistungen sollte überprüft werden, ob diese in den Anwendungsbereich des EAA fallen. Da der Gesetzestext einige Fragen offe lässt, kann es Grenzfälle geben, bei denen die Frage der Anwendbarkeit nicht direkt offensichtlich ist.
  • Es sollten mögliche Ausnahmeregelungen berücksichtigt werden.
  • Insbesondere im Bereich von Dienstleistungen sollten mögliche Übergangsfristen bestimmt werden.
  • Die Anforderungen können ggf. auch Unternehmer außerhalb der EU betreffen, die sich mit ihren Angeboten an Verbraucher:innen in der EU richten.

Schritt 2: Bestimmung des eigenen Pflichtenprogramms

  • Es sollten die nach dem EAA einschlägigen Pflichten ermittelt und anhand der komplexen Vorschriften runtergebrochen werden. Betroffen ist nicht nur die konkrete technische Ausgestaltung der Produkte und Dienstleistungen. Es sollte auch die Implementierung von Informations- und Kennzeichnungspflichten rechtzeitig in den Blick genommen werden.
  • Insbesondere im Produktbereich sollte die eigene Rolle identifiziert werden, da hiervon die Pflichtendichte maßgeblich abhängt. 
  • Relevant ist zudem die Frage, ob bestehende Verträge mit Verbraucher:innen angepasst werden oder Produkte ausgetauscht müssen.

Schritt 3: Projekt(e) mit verschiedenen Stakeholdern aufsetzen

  • Da die Umsetzung des EAA die Einbeziehung vieler Teams erfordert, etwa von Programmierer:innen, aber ggf. auch aus dem Marketing oder dem Kundenservice, sollte die interne Umsetzung frühzeitig teamübergreifend organisiert werden.
  • Im Produktbereich sollte das Zusammenspiel mit anderen relevanten Akteuren in der Lieferkette abgestimmt werden, etwa zwischen Hersteller und Importeur.

1 Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen.

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* This article is current as of the date of its publication and does not necessarily reflect the present state of the law or relevant regulation.

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