Massenentlassung – Schutz in der Elternzeit

Veröffentlicht am 2nd May 2017

Arbeitnehmer in Elternzeit unterfallen unter Umständen auch dann dem Schutz der bezüglich Massenentlassungen anwendbaren §§ 17 ff. KSchG, wenn die Kündigung ihnen gegenüber außerhalb des gesetzlichen 30-Tages-Zeitraums zugeht. Dies hat das Bundesarbeitsgericht (BAG, Urteil v. 26. Januar 2017 – 6 AZR 442/16) entschieden, nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Beschluss v. 8. Juni 2016 – 1 BvR 3634/13) eine anders lautende Entscheidung des BAG als Verstoß gegen das Grundgesetz gewertet und aufgehoben hatte.

Der Sachverhalt

Die Klägerin war bei der Beklagten, einer griechischen Fluggesellschaft, die an fünf Standorten in Deutschland insgesamt 69 Arbeitnehmer im Bodenbetrieb beschäftigte, angestellt. 2009 beschloss eine neu eingesetzte griechische Gesellschaft als Sonderliquidatorin die deutschen Standorte zu schließen und sämtlichen Arbeitnehmern zu kündigen. An den verschiedenen Standorten gab es Betriebsräte; zudem bestand ein Gesamtbetriebsrat. Die Klägerin war in dem Standort in Frankfurt beschäftigt.

Die Kündigungen der anderen Arbeitnehmer stellten eine Massenentlassung i.S.d. § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 KSchG dar, da mit der vollständigen Schließung des Standorts Frankfurt, unter Kündigung der 36 Arbeitnehmer, die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG der zu kündigenden Arbeitnehmer innerhalb des maßgeblichen 30-Tages-Zeitraums erfüllt waren.

Die Kündigungen waren – wie die Gerichte in anderen Verfahren feststellten – wegen Verstoß gegen § 17 Abs. 2 KSchG unwirksam, da keine ordnungsgemäße Konsultation des Gesamtbetriebsrates erfolgte. Bei der Massenentlassungsanzeige lag mangels Konsultation auch keine nach § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG notwendige Stellungnahme des Gesamtbetriebsrates bei.

Zwischen Dezember 2009 und Januar 2010 fand die Kündigungswelle statt.

Die Klägerin befand sich zu dem Zeitpunkt in Elternzeit. Daher wurde zunächst eine behördliche Zustimmungserklärung nach § 18 Abs. 1 BEEG beantragt, welche mit Bescheid vom 2. März 2010 erteilt wurde. Am 12. März 2010 erhielt die Klägerin dann das Kündigungsschreiben vom 10. März 2010.

Nach Auffassung des BAG in dem ersten zu der Sache ergangenen Urteil (BAG, Urteil v. 25. April 2013 – 6 AZR 49/12) war spätestens am 28. Februar 2010 der maßgebliche 30-Tages-Zeitraum des § 17 Abs. 1 KSchG abgelaufen, weshalb die Kündigung der in Elternzeit befindlichen Arbeitnehmerin am 12. März 2010 keine Massenentlassung mehr darstelle. Anders als bei den anderen Arbeitnehmern war die Kündigung der in Elternzeit befindlichen Arbeitnehmerin nach Auffassung des BAG also nicht wegen Verstoß gegen die §§ 17 ff. KSchG unwirksam.

Gegen dieses Urteil legte die Klägerin Verfassungsbeschwerde beim BVerfG ein.

Das BVerfG hob mit Beschluss vom 8.Juni 2016 (1 BvR 3634/13) das Urteil des BAG auf und verwies den Fall zurück an das BAG.

Das BVerfG sah in der Entscheidung des BAG einen Verstoß gegen die Grundrechte der Klägerin aus Art. 3 Abs. 1 GG, wenn die Arbeitnehmerin aufgrund der Elternzeit, die unmittelbar an die verfassungsrechtlich in Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Elternschaft anknüpft, vom Anwendungsbereich des Massenentlassungsschutzes ausgeschlossen wird. Zudem sei dies eine faktische Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts, da Frauen nachweisbar evident häufiger Elternzeit beanspruchen als Männer, was ebenfalls einen Verstoß gegen Art. 3 GG begründe.

Die Entscheidung

Das BAG gab nach der Entscheidung des BVerfG der Kündigungsschutzklage statt und entschied, dass die Kündigung gemäß den §§ 134 BGB i.V.m. 17 KSchG nichtig gewesen sei und das Arbeitsverhältnis mithin nicht beendet hatte.

Das BAG führte hierzu aus, dass der europarechtlich determinierte Arbeitnehmerschutz bei Massenentlassungen zwar an den Zeitpunkt der Entlassung und damit an den Zugang der Kündigungserklärung anknüpfe. Massenentlassungen liegen nach der Massenentlassungsrichtlinie (MERL) nur vor, wenn innerhalb von 30 Tagen eine bestimmte, von der Betriebsgröße abhängige Anzahl von Arbeitnehmern entlassen wird (Schwellenwert).

Arbeitnehmer, die außerhalb des 30-Tage-Zeitraums gekündigt werden, können sich jedoch unabhängig davon, ob dies auf ein behördliches Zustimmungserfordernis zurückzuführen ist, nach der unionsrechtlichen Ausgestaltung des Massenentlassungsschutzes auf Fehler im Konsultationsverfahren nicht berufen. Bei einer solchen Kündigung wird der Schutz der MERL nicht ausgelöst, weil keine Massenentlassung vorliegt.

Dem BVerfG folgend führte das BAG jedoch aus, die Klägerin werde bei einer solchen Auslegung des Kündigungsbegriffs unzulässig wegen der von ihr in Anspruch genommenen Elternzeit und wegen ihres Geschlechts benachteiligt, wenn ihr der Schutz vor Massenentlassungen versagt werde, weil das Abwarten der gemäß § 18 BEEG a.F. wegen der Elternzeit notwendigen behördlichen Zustimmung zur Kündigung dazu geführt habe, dass die Kündigung erst nach Ablauf des 30-Tage-Zeitraums erklärt wurde. Daher seien Personen mit besonderem Kündigungsschutz, denen Kündigungen allein deshalb außerhalb des 30-Tage-Zeitraums zugingen, weil zuvor ein anderes behördliches Verfahren, das keinen dem Massenentlassungsschutz gleichwertigen Schutz biete, habe durchgeführt werden müssen, so zu behandeln wie Arbeitnehmer, für deren Kündigungen § 17 KSchG gilt. In diesen Fällen gelte deshalb der 30-Tage-Zeitraum auch dann als gewahrt, wenn die Antragstellung auf Zustimmung der zuständigen Behörde zu der Kündigung innerhalb dieses Zeitraums erfolgt sei.

Das Bundesverfassungsgericht hat nach Auffassung des BAG mit diesen Vorgaben zur verfassungskonformen Auslegung des § 17 KSchG, ohne dies ausdrücklich offenzulegen, den deutschen Entlassungsbegriff für bestimmte Personen mit Sonderkündigungsschutz gegenüber den Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union erweitert. Maßgeblich ist für diesen Personenkreis also nicht der Zugang der Kündigung, sondern der Eingang des Antrags auf Zustimmung zur Kündigung bei der Behörde. Diese Neudefinition sei für das BAG bindend.

Hinweise für die Praxis

Durch die vorliegende Entscheidung des BAG wurde der Schutz von Beschäftigten in Elternzeit bei Massenentlassungen gestärkt.

Die Entscheidung dürfte aber auch für andere Beschäftigte, die einem Sonderkündigungsschutz unterliegen, relevant sein, jedenfalls, sofern ein behördliches Zustimmungserfordernis besteht, welches das Risiko einer Verzögerung der Kündigung mit sich bringt. Schwerbehinderte Arbeitnehmer, deren Kündigung nach § 85 SGB IX der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes bedarf, dürften ebenso betroffen sein wie auch Arbeitnehmer, die einen Angehörigen pflegen und die Kündigung daher von der obersten Landesbehörde einer entsprechenden Zulässigkeitserklärung bedarf, vgl. § 5 Abs. 2 PflegeZG.

Das BAG wirft in seiner Entscheidung zwar die Frage auf, ob die anderen behördlichen Verfahren des Sonderkündigungsschutzes nach der Definition des BVerfG ebenfalls keinen „dem Massenentlassungsschutz gleichwertigen Schutz bieten“, dies wird jedoch aus unserer Sicht zu bejahen sein.

Weiterhin wirft das BAG selbst Folgefragen auf, beispielsweise, ob der verfassungskonforme Entlassungsbegriff für alle Massenentlassungen gelte oder nur bei Betriebsstilllegungen. Offen sei ferner, wie Kündigungen zu behandeln seien, bei denen der Antrag außerhalb des zeitlichen Zusammenhangs von 30 Tagen mit anderen Massenentlassungen erfolgt. Probleme entstünden insbesondere, wenn die behördliche Zustimmung erst außerhalb der 90-tägigen Freifrist des § 18 Abs. 4 KSchG erteilt würde, wenn bei einer Arbeitnehmerin in Elternzeit die Kündigung als solche zugleich Teil einer zweiten, § 17 KSchG unterfallenden Welle von Kündigungen sei oder wenn ein Arbeitgeber Kündigungen so staffele, dass die Schwellenwerte stets (gerade noch) unterschritten würden, um so den Massenentlassungsschutz zu vermeiden. Das BAG fühlte sich in dieser Entscheidung jedoch zu keinen Ausführungen zu den selbst aufgeworfenen Fragen berufen, so dass die weiteren Auswirkungen des Beschlusses des BVerfG mit Spannung abzuwarten bleiben.

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* Dieser Artikel entspricht dem aktuellen Stand zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung und spiegelt nicht notwendigerweise den aktuellen Stand des Gesetzes / der Regulatorik wider.

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