Interview mit Jule Martin, Osborne Clarke: Beratungsbedarf zur Direktlieferung steigt
Veröffentlicht am 9th Jul 2024
Erstveröffentlichung: energate messenger
Hamburg (energate) - Strom direkt aus der eigenen PV- oder Windenergieanlage kann teure Netzentgelte und Umlagen sparen. energate sprach mit Jule Martin, Rechtsanwältin der Kanzlei Osborne Clarke - Rechtsanwälte Steuerberater Partnerschaft am Standort Hamburg, über rechtliche Fragestellungen zur Eigenversorgung.
energate: Wie funktioniert eine Direktlieferung und welchen Raum lässt der Gesetzgeber dafür?
Martin: Die Direktlieferung bietet Industrie- und Gewerbekunden eine langfristige, kostenstabile und häufig auch günstigere Alternative der Stromversorgung. Gleichzeitig trägt sie zur "Vergrünung" der Unternehmen bei und kann so einen wichtigen Baustein für die Dekarbonisierung von Produktionsprozessen bilden. Das Besondere an der Direktlieferung ist, dass das Netz der allgemeinen Versorgung nicht genutzt und die PV- oder Windenergieanlage in unmittelbarer räumlicher Nähe zum Abnehmer steht. Dazu gibt es verschiedene rechtliche Vorgaben.
Das "Werksnetz" des Abnehmers ist in der Regel eine sogenannte Kundenanlage, die nach den Regeln des EnWG eben nicht als Netz eingeordnet wird. Somit sind keine Netzentgelte oder netzentgeltbezogenen Umlagen zu zahlen. Relativ einfach ist es, wenn beispielsweise direkt auf einem Werksgelände oder einem freien Dach eine PV-Anlage installiert wird. Steht die PV- oder Windenergieanlage aber weiter entfernt zum Standort des Abnehmers, stellt sich die Frage, wie lang die Direktleitung sein darf. Zur Schaffung von Rechtssicherheit in dieser Frage führte der Gesetzgeber im Dezember 2023 in der Definition der Kundenanlage im EnWG eine Ergänzung ein, die im Ergebnis besagt, dass bis zu einer Länge von fünf Kilometern der Status einer Kundenanlage nicht gefährdet ist.
energate: Ist diese Ergänzung zur Förderung von Direktlieferungen Ihrer Ansicht nach zielführend?
Martin: Die Intention des Gesetzgebers war sicher gut. Sobald aber die Direktleitung 5,1 Kilometer lang ist, hat das Unternehmen durch die starre Begrenzung ein Problem, weil der Kundenanlagenstatus dann gefährdet ist. Wenn die Bundesregierung die direkte Belieferung von Industrie und Gewerbe mit Grünstrom als Maßnahme einer dezentralen Energieversorgung fördern will, wäre es unseres Erachtens sinnvoll, die Begrenzung einer möglichen Direktleitung nach Länge und Kapazität wieder zurückzunehmen.
energate: Wäre damit nicht die Tür geöffnet für eine Entsolidarisierung, also dass sich die Industriekunden den Netzkosten entziehen und die Haushaltskunden darauf sitzen bleiben?
Martin: Eine "Entsolidarisierung" von den Netzausbaukosten allein durch das Instrument der Direktlieferung dürfte sich eher in Grenzen halten. Denn eine Kostenersparnis der Unternehmen ist ab einer bestimmten Länge der Direktleitung nicht mehr gegeben, da hier die mit der Errichtung der Leitung einhergehenden Kosten und die bei längeren Leitungen entstehenden Leitungsverluste zu berücksichtigen sind. Ab welcher Leitungslänge sich eine Direktleitung nicht mehr rechnet, hängt allerdings stets von den Umständen des Einzelfalls ab, weshalb mehr (rechtliche) Flexibilität hier wünschenswert wäre.
energate: Gibt es Beratungsbedarf in Ihrer Kanzlei zu diesen Fällen?
Martin: Ja, der Bedarf steigt stetig, auch unabhängig von der definierten Länge einer Direktleitung von maximal fünf Kilometern. Wir sehen auch Fälle, in denen die Erneuerbare-Energien-Anlage durchaus weiter entfernt angeschlossen werden soll. Diese Sonderkonstellationen bedürfen dann aber bestimmter Regelungen im Hinblick auf die Risikoverteilung zwischen Erzeuger und Abnehmer. Solche Konstellationen sind zudem unbedingt mit dem zuständigen Netzbetreiber abzustimmen. Denn am Ende des Tages kann er den Kundenanlagenstatus des Werksnetzes des Abnehmers in Zweifel ziehen, sodass dann Streitfälle entstehen können.
energate: Stehen die Netzbetreiber hier eher auf der Bremse?
Martin: Unsere Erfahrung zeigt, dass ein möglichst früher Austausch zwischen allen Beteiligten wichtig ist - Projektentwickler, Abnehmer, Bank und (vorgelagerter) Netzbetreiber. Dann können in der Regel Lösungen gefunden werden, um ein Projekt umzusetzen.
energate: Welche rechtlichen Fragen landen denn dann auf dem Schreibtisch einer Kanzlei?
Martin: Da die regulatorischen Vorgaben einer Direktlieferung recht komplex sind, unterstützen wir unsere Mandanten meist schon zu einem frühen Stadium ihres Projekts, etwa bei der Erstellung von Term Sheets, Details der Flächennutzung und -sicherung, des jeweiligen Mess- und Einspeisekonzepts oder der Erstellung des Stromabnahmevertrages, dem PPA. Die Vertragsgestaltung ist hier von besonderer Bedeutung. Ein wichtiger Aspekt ist dabei etwa die Sicherstellung einer möglichen Alternativvermarktung im Fall einer vorzeitigen Beendigung des PPAs. Denn die Direktlieferung bringt meist die Besonderheit mit sich, dass die PV- oder Windenergieanlage auf Flächen des Abnehmers errichtet wird und zudem kein separater Netzanschluss besteht. Im Fall einer Projektfinanzierung wird auch die finanzierende Bank hierauf ein besonderes Augenmerk legen.
Ein weiteres, gerade auch für die Wirtschaftlichkeit der Projektrealisierung wichtiges Thema ist die Einspeisung und Vermarktung von Überschussstrom, da Industrie- und Gewerbekunden in der Regel nachts oder zumindest an Sonn- und Feiertagen keinen Strom verbrauchen; nur wenige Unternehmen haben eine 24/7-Nachfrage. Auch hier wären klare rechtliche Regelungen wünschenswert, die flexibel, auch in weiträumigeren Fällen, die Möglichkeit einer Überschusseinspeisung und -vermarktung sicherstellen.
energate: Das heißt, rechtlich ist die Möglichkeit einer Überschusseinspeisung nicht sicher?
Martin: Wir meinen schon, dass eine Überschusseinspeisung grundsätzlich möglich ist, zumindest dann, wenn die räumliche Nähe zwischen Erzeugung und Abnahme des Stroms gegeben ist. Maßgebliche Norm ist hier Paragraf 21b Absatz 4 EEG, der die sogenannte Nachbarlieferung ohne Nutzung des Netzes der allgemeinen Versorgung regelt. Die Regelung hatte aber ursprünglich vermutlich einen anderen Fall vor Augen, nämlich den der Eigenversorgung. Auf diesen Anwendungsfall ist die Norm ihrem Wortlaut nach jedoch nicht beschränkt. Explizit geregelt ist die Frage der Überschusseinspeisung allerdings nicht.
energate: Gab es hierzu schon Streitfälle oder bleibt es bisher bei den Gesprächen mit dem Netzbetreiber?
Martin: Bisher sind bei uns diesbezüglich keine Streitfälle aufgetreten. Wir beraten Projektentwickler ebenso wie energieintensive Abnehmer, etwa aus den Branchen Chemie, Stahl, oder Glas, und empfehlen den Parteien insbesondere bei komplexen Fällen stets, den Dialog mit dem Netzbetreiber möglichst frühzeitig zu suchen.
energate: Welche Fragen außer dem Stromüberschuss treiben die Mandanten noch um?
Martin: Eine weitere häufig gestellte Frage betrifft die Generierung von Herkunftsnachweisen für die in der PV- oder Windenergieanlage erzeugten Strommengen. Bei einer Direktlieferung können sich diesbezüglich Besonderheiten ergeben, weil der Strom nicht durch ein Netz durchgeleitet wird und die Lieferung direkt an einen Letztverbraucher erfolgt. Entsprechende Regelungen sind in der Herkunfts- und Regionalnachweis-Durchführungsverordnung enthalten.