Gesundheitsbezogene Apps als Hochrisiko-KI-Systeme – neue Anforderungen durch das Urteil des OLG Hamburg?
Veröffentlicht am 14th Sep 2024
Bei der Entwicklung und Vermarktung von Telemedizinanwendungen, insbesondere gesundheitsbezogenen Apps, stellt sich regelmäßig die Frage, ob sie nach den Vorgaben der EU-Verordnung 2017/745 über Medizinprodukte (MDR) ein zeit- und kostenintensives Konformitätsbewertungsverfahren durch Dritte durchlaufen müssen oder eine Konformitätserklärung des Herstellers ausreicht. Grundsätzlich gilt nach Art. 52 MDR, dass eine solche sog. Selbstzertifizierung nur bei Medizinprodukten der Klasse I ausreicht. Für Medizinprodukte, einschließlich Telemedizinanwendungen, der Klassen IIa, IIb und III bedarf es hingegen eines Konformitätsbewertungsverfahrens durch Dritte (durch sog. Benannte Stellen).
A. Hintergrund
Der zunehmende Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Medizin führt dazu, dass neben der MDR auch die Vorgaben der EU KI-Verordnung (KI-VO) für Anbieter, Betreiber, Händler und Importeure von gesundheitsbezogenen Apps mit KI-Funktionalität relevant werden. Sofern solche gesundheitsbezogenen Apps einem Konformitätsbewertungsverfahren durch Dritte nach der MDR unterliegen, sind sie als Hochrisiko-KI-Systeme nach Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Anhang I Abschnitt A Nr. 11 KI-VO einzustufen. Dies zieht umfassende Pflichten für die verschiedenen Akteure nach sich.
Die Frage, welcher Risikoklasse nach der MDR eine gesundheitsbezogene App zuzuordnen ist, gewinnt in der Praxis damit noch größere Relevanz. Mit seinem Urteil zur Hautarzt App (Urteil vom 20. Juni 2024 – 3 U 3/24) hat das OLG Hamburg die Anforderungen an die Klassifizierung von Telemedizinanwendungen noch einmal verschärft.
B. Urteil des OLG Hamburg
In einem Verfahren vor dem OLG Hamburg war streitig, ob eine „Hautarzt App“, welche die Anfertigung und Übermittlung von Hautbildern und Anamnese-Fragebögen an Dermatologen ermöglichte, als Medizinprodukt der Klasse I oder einer höheren Klasse nach Art. 51 (1) iVm Regel 11 des Anhangs VIII MDR einzuordnen ist. Unstreitig war zwischen den Parteien, dass es sich bei der App um ein Medizinprodukt handelte und somit die MDR Anwendung findet. Beide Parteien hatten sich auf eine Ausschreibung einer Krankenkasse beworben.
Eine Wettbewerberin der App-Anbieterin hatte diese wegen behaupteten Fehlens eines Konformitätsbewertungsverfahrens durch Dritte auf Unterlassung des Vertriebs der App in Anspruch genommen. Demnach hätte für die „Hautarzt App“ ein Verkehrsverbot bestanden und sie hätte gar nicht erst ohne Konformitätsbewertungsverfahren auf den Markt gebracht werden dürfen.
Die App-Anbieterin hielt dagegen, die „Hautarzt-App“ unterfiele nur der Klasse I, so dass eine Selbstzertifizierung ausreiche. Die Hautarzt-App übermittele nur Informationen und mangels eines diagnoserelevanten Beitrags ihrer App sei diese nach Regel 11 des Anhangs VIII MDR nicht der Klasse IIa zuzuordnen. Damit sei kein Konformitätsbewertungsverfahren durch Dritte erforderlich gewesen.
Wesentliche Streitfrage des Verfahrens war daher die Frage, ob es für die Einordnung der App in die Klasse IIa oder höher erforderlich ist, dass diese neben der Anfertigung und Übermittlung von Hautbildern und Anamnese-Fragebögen auch eine eigene diagnostische Leistung (z.B. Krankheitsvorschlag) erbringen muss.
Das OLG Hamburg verneinte das Erfordernis der eigenen diagnostischen Leistung auf Grundlage einer weiten Auslegung der Regel 11 des Anhangs VIII MDR, die so auch im Einklang mit der englischen und französischen Sprachfassung der MDR stünde. Danach genüge es für die Einordnung in Klasse IIa bereits, wenn eine Software „Informationen liefert, die zu Entscheidungen für diagnostische oder therapeutische Zwecke herangezogen werden“. Die Erbringung einer eigenen diagnostischen Leistung mithilfe der Software, ergebe sich nicht aus dem Wortlaut der Regel 11. Auch nach dem allgemeinen Sprachgebrauch erfordere eine „Lieferung“ von Informationen nur deren Übermittlung an einen Dritten, nicht aber zusätzliche Leistungen oder deren Bearbeitung.
Eine einschränkende Auslegung der Regel 11 sei nach Auffassung des Gerichts auch nicht mit dem Gedanken des effet utile zu vereinbaren, selbst wenn dies dazu führe, dass „viele digitale Medizinprodukte höher klassifiziert werden müssen“. Software, die neben der Anfertigung und Übermittlung von medizinischen Informationen auch eine eigene diagnostische Leistung erbringe, sei schließlich bereits als ein „aktives Produkt zu Diagnosezwecken“ nach Regel 10 in Anhang VIII MDR zu qualifizieren.
C. Auswirkungen des Urteils
Für gesundheitsbezogene Apps, die als Medizinprodukte einzuordnen sind, ist das Urteil des OLG Hamburg von erheblicher praktischer Relevanz, insbesondere im Lichte der KI-VO.
Nach Meinung des OLG Hamburg ist jede Datenübermittlung mittels einer solchen App als „Liefern“ von diagnose- bzw. therapierelevanten Informationen im Sinne der Regel 11 des Anhangs VIII MDR zu qualifizieren. Dementsprechend werden gesundheitsbezogene Apps, die der MDR unterfallen, sowohl ein Konformitätsbewertungsverfahren durch Dritte nach der MDR durchlaufen müssen, als auch den Anforderungen an Hochrisiko-KI-Systeme nach Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Anhang I Abschnitt A Nr. 11 KI-VO unterfallen, wenn über die Apps medizinische Informationen zu diagnostischen oder therapeutischen Zwecken an entsprechend qualifizierte Stellen übermittelt werden und die Apps ein KI-System als Sicherheitsbauteil enthalten oder selbst ein KI-System sind.
Aus Sicht der KI-VO müssen Hersteller solcher Hochrisiko-KI-Systeme eine Vielzahl von Risiko-Management-, Aufsichts-, Aufzeichnungs-, Dokumentations-, Organisations-, (Cyber-)Sicherheits-, Transparenz-, Test- und Technikanforderungen nach Art. 8 ff. KI-VO als auch die Anforderungen für das Konformitätsbewertungsverfahrung nach der KI-VO beachten. Gleichzeitig unterliegen auch die dem Hersteller nachgelagerten Akteure wie Betreiber, Händler und Importeure von gesundheitsbezogenen Apps Pflichten nach der KI-VO.
Die für den Rechtsstreit vor dem Urteil des OLG Hamburg entscheidende Regel 11 des Anhangs VIII MDR ist zwar für die Praxis hoch relevant, aber gleichzeitig auch stark umstritten. Daher ist nicht ausgeschlossen, dass sich auch der EuGH noch zur Klassifizierung solcher gesundheitsbezogenen Apps unter der MDR, dann gegebenenfalls auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen unter der KI-VO, äußern wird.
Bis dahin werden insbesondere Anbieter und Betreiber von gesundheitsbezogenen Apps mit KI-Funktionalität zukünftig genau prüfen müssen, ob ihre App in Klasse IIa der MDR (oder höher) fällt und somit auch als ein Hochrisiko-KI-System zu qualifizieren ist – mit der Folge, dass ein Konformitätsbewertungsverfahren durch Dritte nach der MDR durchzuführen ist und zusätzlich die Vorgaben der KI-VO zu Hochrisiko-KI-Systeme zu beachten sind.