Fremd-Geschäftsführer und Praktikanten sind Arbeitnehmer im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie
Veröffentlicht am 30th Okt 2015
Art. 1 Absatz 1 Buchst. a der Massenentlassungs-Richtlinie (98/59/EG) steht einer nationalen Regelung oder Praxis entgegen, die bei der Berechnung des Schwellenwertes im Hinblick auf das Erfordernis einer Massenentlassungsanzeige ein Mitglied der Unternehmensleitung einer Kapitalgesellschaft unberücksichtigt lässt, das seine Tätigkeit nach Weisung und Aufsicht eines anderen Organs dieser Gesellschaft ausübt, als Gegenleistung für seine Tätigkeit eine Vergütung erhält und selbst keine Anteile an dieser Gesellschaft besitzt. Weiterhin sind Praktikanten ohne Vergütung durch den Arbeitgeber, die jedoch von der öffentlichen Arbeitsförderung finanziell unterstützt werden, Arbeitnehmer im Sinne von Art. 1 Absatz 1 Buchst. a der Massenentlassungs-Richtlinie und daher im Rahmen der Berechnung des Schwellenwertes im Hinblick auf die Massenentlassungsanzeige zu berücksichtigen. Dies hat der EuGH in seinem Urteil (Az. C-229/14) vom 9. Juli 2015 entschieden.
Der Sachverhalt
Der Arbeitnehmer war bei seinem Arbeitgeber, einer deutschen GmbH, beschäftigt. Der Arbeitgeber beendete zum 15. Februar 2013 sämtliche Arbeitsverhältnisse und stellte den Geschäftsbetrieb ein. Der Arbeitgeber hat vor Ausspruch der Kündigungen keine Massenentlassungsanzeige erstattet.
Zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigungen waren bei dem Arbeitgeber insgesamt 18 Arbeitnehmer beschäftigt. Zudem war bei dem Arbeitgeber ein Geschäftsführer angestellt, der keine Geschäftsanteile hielt und zu der Vertretung der GmbH nur gemeinschaftlich mit einem anderen Geschäftsführer berechtigt war. Weiterhin war bei dem Arbeitgeber eine Praktikantin im Rahmen einer Umschulungsmaßnahme zur Bürokauffrau tätig, die von dem zuständigen Job Center gefördert wurde. Eine Vergütung der Praktikantin durch den Arbeitgeber erfolgte nicht.
Das Arbeitsgericht Verden (Az. 1 Ca 35/13) hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob der Fremd-Geschäftsführer entgegen des Wortlauts von § 17 Abs. 5 Nr. 2 KSchG sowie die Praktikantin für den maßgeblichen Schwellenwert für die Massenentlassungsanzeigepflicht zu berücksichtigen sind.
Die Entscheidung
Der EuGH bejahte dies sowohl für den Fremdgeschäftsführer als auch für die Praktikantin. Insoweit stellte der EuGH zunächst klar, dass die Auslegung des Begriffs „Arbeitnehmer“ innerhalb der Unionsrechtsordnung autonom und einheitlich zu erfolgen hat, wobei die Definition anhand objektiver Kriterien vorzunehmen ist. Die Natur des Beschäftigungsverhältnisses nach nationalem Recht soll daher im Sinne des Unionsrechts ohne Bedeutung sein. Weiterhin ist nach Ansicht des EuGH das für ein Arbeitsverhältnis charakteristische Subordinationsverhältnis in jedem Einzelfall anhand aller Gesichtspunkte und aller Umstände, welche die Beziehung zwischen den Beteiligten kennzeichnen, zu prüfen.
Folglich kann die Position als Mitglied eines Leitungsorgans nicht per se ein Unterordnungsverhältnis ausschließen. Vielmehr erfüllt ein Mitglied der Unternehmensleitung einer Kapitalgesellschaft, das gegen Entgelt gegenüber der Gesellschaft Leistungen erbringt, die es bestellt hat und in die es eingegliedert ist, das seine Tätigkeit nach der Weisung oder unter der Aufsicht eines anderen Organs dieser Gesellschaft ausübt und das jederzeit ohne Einschränkung von seinem Amt abberufen werden kann, die Voraussetzungen, um als Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts zu gelten. Folglich ist nach dem EuGH im vorliegenden Fall der Fremd-Geschäftsführer als Arbeitnehmer zu qualifizieren, so dass dieser im Hinblick auf den Schwellenwert für die Massenentlassungsanzeigepflicht zu berücksichtigen ist.
Weiterhin umfasst nach Ansicht des EuGH der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff auch Personen, die einen Vorbereitungsdienst ableisten oder in einem Beruf Ausbildungszeiten absolvieren, die als eine mit der eigentlichen Ausübung des betreffenden Berufs verbundene praktische Vorbereitung betrachtet werden können, wenn diese Zeiten unter den Bedingungen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis für einen Arbeitgeber nach dessen Weisung absolviert werden. Die Herkunft der für die Vergütung des Praktikanten eingesetzten Mittel soll dabei irrelevant sein. Folglich ist nach dem EuGH auch die Praktikantin als Arbeitnehmer zu qualifizieren und im Hinblick auf die Massenentlassungsanzeigepflicht mitzuzählen.
Hinweise für die Praxis
Der EuGH führt mit der vorliegenden Entscheidung seine Danosa-Rechtsprechung fort, im Rahmen der er bereits den Anspruch auf Mutterschutz eines Fremdgeschäftsführers bejahte. Inwieweit nunmehr überall dort, wo deutsche Arbeitnehmerschutzgesetze auf unionsrechtliche Richtlinien zurückgehen, diese Schutzansprüche – insbesondere im Hinblick auf Urlaub und Arbeitszeit – auf Organe erweitert werden müssen, ist noch nicht abschließend entschieden. Allerdings ist derzeit nicht auszuschließen, dass der EuGH – sollte er seine aktuelle Rechtsprechung konsequent fortführen – eine solche Erweiterung bejaht.
Was die Massenentlassungsanzeigepflicht angeht, so ist nach der vorliegenden Entscheidung § 17 Abs. 5 Nr. 3 KSchG jedenfalls im Hinblick auf GmbH-Fremd-Geschäftsführer nicht mit dem geltenden Unionsrecht vereinbar. Daher sollten zukünftig GmbH-Fremdgeschäftsführer in jedem Fall im Rahmen des Schwellenwertes für die Massenentlassungsanzeigepflicht berücksichtigt werden.