Entgeltfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit – Verschulden bei langjähriger Alkoholkrankheit
Veröffentlicht am 8th May 2015
Eine Arbeitsunfähigkeit ist nur dann im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) verschuldet, wenn ein Arbeitnehmer in erheblichem Maße gegen das von einem verständigen Menschen in seinem eigenen Interesse zu erwartende Verhalten verstößt. Nur dann verliert er seien Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Bei einem alkoholabhängigen Arbeitnehmer fehlt es suchtbedingt auch im Fall eines Rückfalls nach einer Therapie regelmäßig an einem solchen Verschulden. Dies hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in seinem Urteil vom 18. März 2015 (Az. 10 AZR 99/14) entschieden.
Das BAG geht in der Pressemitteilung auf diese Rechtsprechungsfortentwicklung durch das LAG Köln nicht weiter ein, so dass insoweit die Veröffentlichung der Entscheidungsgründe abzuwarten ist. Allerdings spricht die Formulierung der Pressemitteilung, wonach es auch im Fall eines Rückfalls nach einer Therapie regelmäßig an einem Verschulden nach § 3 Abs. 1 EFZG fehlen soll, für eine Bestätigung der von dem LAG Köln vorgenommene Weiterentwicklung der bisherigen BAG-Rechtsprechung.
Der Sachverhalt
Die Klägerin ist eine gesetzliche Krankenkasse. Der alkoholabhängige Herr L., der Mitglied der klagenden Krankenkasse ist, war seit dem Jahr 2007 bis zum 30. Dezember 2011 Arbeitnehmer der beklagten Arbeitgeberin. Am 23. November 2011 wurde Herr L. mit einer Alkoholvergiftung (4,9 Promille) in ein Krankenhaus eingeliefert und war in der Folge für über zehn Monate arbeitsunfähig erkrankt. Schon zuvor hatte Herr L. zweimal eine stationäre Entzugstherapie durchgeführt. Herr L. wurde jedoch immer wieder rückfällig.
Die Klägerin leistete an Herrn L. für die Zeit vom 29. November 2011 zum 30. Dezember 2011 Krankengeld in Höhe von EUR 1.303,36. Mit Schreiben vom 18. Juli 2012 verlangte die Beklagte von Herrn L. Auskunft über „alle für die Entstehung der Alkoholabhängigkeit erheblichen Umstände“. Herr L. reagierte auf das Schreiben nicht. Die Klägerin verlangt ihre Ansprüche auf Entgeltfortzahlung aus übergegangen Recht gemäß § 115 SGB X. von der Beklagten ersetzt. Die Beklagte verweigerte die Zahlung mit der Begründung, dass Herr L. seine Arbeitsunfähigkeit selbst verschuldet habe. Schließlich sei er trotz mehrfachem stationären Entzug und diesbezüglich erfolgter Aufklärung immer wieder rückfällig geworden.
Das Arbeitsgericht Köln (Az. 9 Ca 9134/12) sowie das Landesarbeitsgericht Köln (Az. 13 Sa 516/13) haben der Klage stattgegeben.
Die Entscheidung
Die Revision der beklagten Arbeitgeberin hatte vor dem Zehnten Senat des BAG keinen Erfolg. Nach Ansicht des BAG handelt es sich bei einer Alkoholabhängigkeit um eine Krankheit. Wird ein Arbeitnehmer infolge seiner Alkoholabhängigkeit arbeitsunfähig krank, könne nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Erkenntnisse nicht von einem Verschulden im Sinne des Entgeltfortzahlungsrechts ausgegangen werden. Die Entstehung der Alkoholsucht sei vielmehr multikausal, wobei sich die unterschiedlichen Ursachen wechselseitig bedingen.
Dies soll nach Ansicht des BAG auch im Grundsatz bei einem Rückfall nach einer durchgeführten Therapie gelten. Allerdings könne generell ein Verschulden des Arbeitnehmers an einem Rückfall nicht ausgeschlossen werden. Der Arbeitgeber sei daher berechtigt das fehlende Verschulden zu bestreiten. Das Arbeitsgericht habe in diesem Fall ein medizinisches Sachverständigengutachten zu der Frage einzuholen, ob der Arbeitnehmer den Rückfall schuldhaft im Sinne von § 3 Abs. 1 EFZG herbeigeführt hat. Lässt sich insoweit keine eindeutige Feststellung treffen, gehe dies zu Lasten des Arbeitgebers. Im vorliegenden Fall hatte das eingeholte sozialmedizinische Gutachten ein Verschulden des Arbeitnehmers unter Hinweis auf die langjährige und chronische Alkoholabhängigkeit ausgeschlossen.
Hinweise für die Praxis
Nach § 3 Abs. 1 EFZG hat ein Arbeitnehmer dann einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, wenn er infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft. Eine Arbeitsunfähigkeit ist dabei im Sinne von § 3 Abs. 1 EFZG verschuldet, wenn ein Arbeitnehmer in erheblichem Maße gegen das von einem verständigen Menschen in seinem eigenen Interesse zu erwartende Verhalten verstößt. Nur dann soll ein Arbeitnehmer seinen Entgeltfortzahlungsanspruch verlieren.
Für den Fall der Alkoholabhängigkeit gibt es dabei keinen Erfahrungssatz, wonach der Arbeitnehmer diese selbst verschuldet. Vielmehr ist insoweit auf den Einzelfall abzustellen. Grundsätzlich hat dabei der Arbeitgeber das Verschulden des Arbeitnehmers nachzuweisen. Allerdings trifft bei dieser Aufklärung nach der ständigen Rechtsprechung des BAG den Arbeitnehmer eine erhebliche Mitwirkungspflicht. Dies soll in erhöhtem Maße gelten, wenn der Arbeitnehmer rückfällig geworden ist.
In den Vorinstanzen war von entscheidender Bedeutung, ob alleine infolge der verweigerten Mitwirkung durch Herrn L. im vorliegenden Fall ein Verschulden zu bejahen ist. Das LAG Köln tenoriert insoweit in seinem amtlichen Entscheidungsleitsatz – explizit abweichend von der Rechtsprechung des BAG –, dass bei einer Arbeitsunfähigkeit aufgrund langjähriger Alkoholabhängigkeit regelmäßig davon auszugehen ist, dass es sich um eine Krankheit handelt, die nicht von dem Arbeitnehmer verschuldet ist. Das LAG Köln begründet diese Entscheidung mit dem Umstand, dass sich bei einer langjährigen Alkoholerkrankung das Verschulden nicht oder nur zugunsten des Arbeitnehmers feststellen lasse, was im Ergebnis die angenommene Vermutung rechtfertigt. Auf eine Mitwirkungshandlung durch den Arbeitnehmer soll es ersichtlich nicht mehr ankommen.