Chinesische „Anti-Suit Injunctions“ – EU-Beschwerde bei der WTO und Rechtsschutz für Patentinhaber
Veröffentlicht am 3rd May 2022
Hintergrund
Am 18. Februar 2022 leitete die Europäische Union bei der Welthandelsorganisation (WTO) ein Verfahren gegen China ein, um einer jüngeren chinesischen Rechtsprechungspraxis entgegenzutreten, die darauf abzielt, europäischen Unternehmen die Durchsetzung ihrer Patentrechte zu erschweren. Gemeint sind sog. „Anti-Suit Injunctions“, also Prozessführungsverbote, mithilfe derer chinesische Gerichte seit einer entsprechenden Grundsatzentscheidung des Obersten Chinesischen Volksgerichts vom 28. August 2020 immer häufiger versuchen, ausländischen Patentinhabern zu untersagen, sich im Fall einer Patentverletzung an ein nicht-chinesisches Gericht zu wenden.
Betroffen von dieser Entwicklung sind vor allem Streitigkeiten über die Verletzung von sog. standardessenziellen Patenten (SEP). Das sind Patente, welche für manche Branchen unverzichtbar sind und daher gewissermaßen zu einem „Standard“ geworden sind. Weil in den betroffenen Branchen eine Benutzung der jeweiligen standardisierten Schlüsseltechnologien (im Mobilfunksektor etwa 4G/5G, WLAN oder Bluetooth) unabdingbar ist, um marktgerechte Produkte anbieten zu können, sind die Inhaber von SEP nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung grundsätzlich dazu verpflichtet, Lizenzen an ihren Patenten an alle Interessenten zu vergeben. Die Konditionen dieser Lizenzen müssen „Fair, Reasonable and Non-Discriminatory“ (FRAND) sein. Die Konkretisierung, welche Lizenzgebühr und welches Verhalten im Einzelfall inhaltlich als FRAND-konform zu qualifizieren ist, entscheiden derzeit schlussendlich die nationalen Gerichte (zur jüngsten Konsultation der EU-Kommission mit dem Ziel der Gewährleistung eines fairen Rahmens für die Lizenzierung von SEP vgl. hier). Wird ein Benutzer eines SEP von dessen Inhaber wegen Patentverletzung verklagt, ohne dass er von dem SEP-Inhaber zuvor auf die betreffende Verletzung hingewiesen wurde oder ohne dass ihm – trotz im Vorhinein signalisierter Lizenzbereitschaft – ein Lizenzangebot unterbreitet wurde, kann er sich im gerichtlichen Verletzungsverfahren mit dem sog. kartellrechtlichen Zwangslizenzeinwand verteidigen. Neben diesem Zwangslizenzeinwand setzen Unternehmen, die bestimmte SEP (noch) ohne Lizenz benutzen, im Rahmen ihrer Verfahrensstrategie allerdings auch immer häufiger darauf, ihrerseits gesondert auf Erteilung einer Lizenz am jeweiligen SEP zu FRAND-Bedingungen zu klagen. Das wiederum tun sie – um möglichst günstige Lizenzgebühren zu erzielen – vor allem in solchen Ländern, in denen eine „SEP-nutzerfreundliche“ Rechtsprechung zu erwarten ist, so insbesondere in China. Exakt an diesem Punkt knüpft nun die chinesische Judikatur zu den „Anti-Suit Injunctions“ an: Um nämlich von vornherein zu verhindern, dass ein in der Zwischenzeit im Ausland (z. B. in Deutschland) eingeleitetes Patentverletzungsverfahren schneller entschieden wird und unter Umständen zu einem Unterlassungstitel führt, der die SEP-Benutzer in einem derweil in China anhängigen Lizenzklageverfahren signifikant unter Druck setzen würde, möchten die Gerichte den SEP-Inhabern neuerdings verbieten, solche Verletzungsprozesse im Ausland überhaupt zu führen – und zwar unter Androhung massivster Geldbußen von umgerechnet bis zu EUR 130.000 pro Tag.
WTO-Verfahren der EU gegen China
Auf Seiten der EU sieht man die chinesische Rechtsprechung zu den „Anti-Suit Injunctions“ als eine unzulässige Benachteiligung europäischer High-Tech-Unternehmen im Hinblick auf die Verteidigung ihrer Patentrechte. Laut einer Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 18. Februar 2022 (zur Pressemitteilung) würden die Prozessführungsverbote insbesondere von chinesischen Konzernen gefordert, „um von billigerem oder sogar kostenlosem Zugang zu europäischer Technologie zu profitieren“. Das beeinträchtige Innovation und Wachstum in Europa außerordentlich und nehme europäischen Technologieunternehmen, so die Kommission, de facto die Möglichkeit, ihre Rechte auszuüben und durchzusetzen. Da die Versuche einer selbständigen politischen Lösung nicht von Erfolg gekrönt waren, wurden nun Konsultationen mit China beantragt. Diese stellen den ersten Schritt des sog. WTO-Streitbeilegungsverfahrens dar (zum Ablauf vgl. hier). Sollten die Konsultationen nicht binnen 60 Tagen zu einer von beiden Seiten akzeptierten Lösung führen, kann die EU die Einsetzung eines WTO-Schiedsgerichts beantragen, das in der Sache entscheidet. In der Folge sind auch wirtschaftliche Vergeltungsmaßnahmen von Seiten der EU denkbar, z. B. die Verhängung von Strafzöllen auf chinesische Importe. Aktuellere Informationen über den weiteren Fortgang des Verfahrens sind derzeit noch nicht verfügbar.
Sog. „Anti Anti-Suit Injunctions“ als Rechtsschutzmöglichkeit für Patentinhaber
Die Reaktionen Chinas auf die eingeleiteten Konsultationen und der Ausgang des betreffenden WTO-Verfahrens bleiben daher abzuwarten. In der Zwischenzeit kommt Patentinhabern in diesem Zusammenhang jedoch eine interessante Entwicklung in der jüngeren deutschen Rechtsprechung zu Hilfe. Diese ermöglicht es im Grundsatz, potenzielle ausländische Prozessführungsverbote durch Erwirken einer eigenen sog. „Anti Anti-Suit Injunction“ zu verhindern. Bei einer „Anti Anti-Suit Injunction“ handelt es sich um eine einstweilige Verfügung, mit der einem Patentbenutzer auf Antrag des Patentinhabers gerichtlich untersagt wird, vor einem ausländischen Gericht eine „Anti-Suit Injunction“ gegen den Patentinhaber zu erwirken. Es handelt sich gewissermaßen um ein „Prozessführungsverbot bezogen auf ein Prozessführungsverbot“ (so treffend Ehlgen, GRUR 2022, 537 m.w.N. auch zum Folgenden). Eine solche „Anti Anti-Suit Injunction“ wurde unter anderem bereits durch das Landgericht München I (z. B. Urt. v. 25. Feb. 2021 - 7 O 14276/20 oder Urt. v. 24. Juni 2021 - 7 O 36/21) sowie das Oberlandesgericht München (Urt. v. 12. Dez. 2019 - 6 U 5042/19) bestätigt. Auch eine aktuelle Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf erachtet „Anti Anti-Suit Injunctions“ prinzipiell für zulässig, obgleich es an deren Anordnung strengere Voraussetzungen knüpft als die Münchener Gerichte (Urt. v. 7. Feb. 2022 - I-2 U 25/21). Die grundsätzliche Anerkennung der Möglichkeit von „Anti Anti-Suit Injunctions“ durch die deutsche Justiz ist deshalb bemerkenswert, weil „Anti-Suit Injunctions“ nach deutschem Recht unstreitig unzulässig sind. Dennoch oder vielmehr gerade aus diesem Grund kommt die Rechtsprechung in diesem Kontext aber offensichtlich nicht umhin, selbst Prozessführungsverbote auszusprechen, da Letztere doch scheinbar die einzige Option sind, um heimische Patentinhaber vor ausländischen „Anti-Suit Injunctions“ zu schützen und so deren Klagemöglichkeit in Deutschland zu gewährleisten. Materiell-rechtlich begründen die Gerichte den Anspruch auf Anordnung einer einstweiligen Verfügung mit einem Unterlassungsanspruch aus einer analogen Anwendung der §§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 BGB, da eine ausländische „Anti-Suit Injunction“ einen rechtswidrigen Eingriff in die eigentumsähnliche Rechtsposition von Patentinhabern bedeute.
Ausblick
Nicht nur die Entwicklungen auf internationaler Ebene bleiben abzuwarten. Spannend bleibt auch die praxisrelevante Frage, welche konkreten Anforderungen die deutschen Gerichte künftig unter dem Aspekt der sog. Erstbegehungsgefahr an den Erlass einer „Anti Anti-Suit Injunction“ stellen werden. Die extensive Interpretation durch das Landgericht München I lässt für eine solche Erstbegehungsgefahr bislang z. B. schon genügen, dass der Benutzer eines Patents nicht innerhalb einer ihm vom Patentinhaber gesetzten kurzen Frist in Textform verbindlich darauf verzichtet, einen Antrag auf Erlass einer „Anti-Suit Injunction“ zu stellen. Das Oberlandesgericht Düsseldorf zeigt sich dagegen weitaus zurückhaltender. Seiner Ansicht nach ist eine vorbeugende „Anti Anti-Suit Injunction“ von konkreten und belastbaren Anhaltspunkten dahingehend abhängig, dass ein Patentbenutzer die Erwirkung einer „Anti-Suit Injunction“ im jeweiligen Einzelfall auch wirklich beabsichtigt – etwa in Form einer ernstzunehmenden Androhung. Im Fall eines tatsächlich bereits vor einem ausländischen Gericht beantragten Prozessführungsverbots gelangt allerdings auch das Oberlandesgericht Düsseldorf zu dem Ergebnis, dass prinzipiell ein Rechtsschutzbedürfnis für eine „Anti Anti-Suit Injunction“ bestehe. Sowohl aus Perspektive der Patentinhaber als auch aus Sicht von Patentbenutzern dürfte es sich daher lohnen, die Problematik der „Anti-Suit Injunctions“ und „Anti Anti-Suit Injunctions“ auch unabhängig vom WTO-Verfahren der EU gegen China im Blick zu behalten.
Markus Schreiber, Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Osborne Clarke, hat an diesem Beitrag mitgearbeitet.